Markt statt Moral
Nicht trotz, sondern wegen der vielen Gesetze und teuren Staatsapparate floriert das Verbrechen, sagt Valentin Landmann. Der Milieuanwalt über sein Berufsverständnis, sein Engagement für die Halbwelt und die falsche Logik der Gesetzgeber.
Valentin Landmann, Sie wuchsen in einem bürgerlich-intellektuellen Milieu in St. Gallen auf und könnten heute als Hochschulprofessor arbeiten. Stattdessen verteidigen Sie Randgruppen. Warum?
Am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg, wo ich eine Zeit lang gearbeitet habe, kam ich zum ersten Mal mit Menschen in Kontakt, die nicht beim kleinsten Problem zum Richter rennen können. Ich wollte erfahren, wie solche Gesellschaften funktionieren – das Rotlichtmilieu, die Drogenszene. In Deutschland lernte ich damals auch die Hells Angels kennen.
Wie würden Sie diese Rockervereinigung beschreiben?
Die Hells Angels sind im Prinzip nichtsanderes als ein normaler, traditioneller Motorradclub.
Ein sehr umstrittener aber.
In ganz Europa ist noch keine einzige Anklage gegen die Hells Angels als kriminelle Organisation durchgekommen. Vor zwei Jahren wurden in vier Kantonen Razzien gegen die Hells Angels durchgeführt. Die Bundeskriminalpolizei begründete die Ak-tion mit dem Verdacht auf Beteiligung an einer kriminellen Organisation. Dieser Vorwurf ist weit gehend zerbröckelt. Er ist aus meiner Sicht auch unhaltbar. Natürlich: Es traten ein paar Einzeldelikte zu Tage, und diese müssen untersucht werden. Aber die Angels als staatsgefährdende Bande abzustempeln, ist lächerlich.
Wie sind die Angels aufgebaut?
Es gibt keine straffe Führung, die «Brüder», wie sie intern genannt werden, sind sehr individualistisch. Untereinander gibt es intensive Freundschaften. Übrigens gibt es auch nichts Harmloseres als eine Hells-Angels-Party. Als ich das erste Mal an einer teilnahm, kam ich aus dem Staunen nicht mehr raus: Es lief Musik, Würste wurden grilliert, Kinder spielten. Als ich einen Anwesenden fragte, wann denn jetzt die Orgie anfange, lächelte er nur und sagte: «Das ist sie!»
Sie sind zwar nicht Mitglied bei den Hells Angels, ihnen aber freundschaftlich verbunden. Dieses Engagement führte 1984 dazu, dass Sie aus der Anwaltskanzlei Wenger & Vieli ausscheiden mussten.
(Überlegt) Mein Engagement hat mir oft geschadet. Anderseits ist es auch eine enorme Bereicherung. Ich bin ungeheuer neugierig, wie die menschliche Natur funktioniert. Die Verteidigung eines Lustmörders etwa hat eine ureigene Faszination.
Was reizt Sie so am Morbiden?
Sie verstehen mich falsch. Mich fasziniert die Frage, warum ein Lustmord passiert, nicht die Tat an sich. Sobald mein Interesse geweckt ist, fällt die Berührungsangst weg.
Ist mangelnde Distanz nicht sehr unprofessionell für einen Juristen?
Ich sitze lieber mit interessanten Leuten zusammen als mit solchen, die einfach nur Geld bringen. Als Anwalt muss man oft lange Gespräche führen und daraus entwickelt sich die eine oder andere Freundschaft. Aber das kann – da gebe ich Ihnen Recht – nachteilig sein.
Sie sprechen aus Erfahrung: Vor acht Jahren wurden Sie von der Bezirksanwaltschaft Zürich der Geldwäscherei und Begünstigung eines Drogendealers beschuldigt. Sie sassen lange in Untersuchungshaft.
Die Ermittlungen ergaben, dass ich weder von seinen Delikten wusste noch davon profitierte. Ich habe damals gravierende Fehler gemacht, habe meinem Mandanten blind vertraut. Für mich war der Mann ein Paradebeispiel für einen Menschen, der sich aus eigener Kraft und Intelligenz aus der kriminellen Welt herausgekämpft hat. Das hat er jedoch nicht, und ich habe mein Vertrauen teuer bezahlt.
Ihr Widerstand gegen staatliche Einflussnahme wirkt beinahe missionarisch. Hat das damit zu tun, dass Sie schon als Kind mit dem Holocaust konfrontiert waren? In Ihrer weit verzweigten jüdischen Familie wurden 200 Menschen ermordet.
Ja, die Nazis haben praktisch meine ganze Familie umgebracht. Mir ist vielleicht stärker als anderen bewusst, wie gefährlich es ist, Gruppierungen zu diskrimi-nieren. Ich fühle mich darum veranlasst, gegen Vorurteile zu kämpfen, und versuche zu verstehen, wie Verbrechen passieren. Die Zufriedenheit in meinem Leben ist immer irgendwie gestört. Darum lehne ich mich nie zurück.
Ist für Sie – vor diesem Hintergrund – Staatsgewalt per se schlecht?
Den Staat als ordnende Gewalt braucht es natürlich. Aber Gesetze sind nicht immer toll, auch wenn sie aus vielleicht noch so hehren Gedanken entstanden sind. Viele Verbrechen in der Geschichte der Menschheit wurden vom Gesetz gestützt. Darum auch mein Misstrauen gegen reinen Positivismus. Es ist gefährlich zu sagen: «Das ist nun mal das Gesetz, also ist es gut.»
Dieser Gedanke zieht sich als Leitfaden durch Ihr neues Buch «Verbrechen als Markt».
Ja, Drogenhandel, Geldwäscherei, Einbrüche und Wirtschaftskriminalität florieren. Wenn man sieht, dass etwas aus dem Ruder läuft, muss man sich fragen: «Was haben wir falsch gemacht?» Wir haben doch genügend Gesetze, und trotzdem floriert der Drogenmarkt. Warum?
Ja, warum?
Weil wir zu stark in moralischen Kategorien denken! Die Kriminalität kennt keine Moral. Warum also sollen wir sie mit moralischen Verboten bekämpfen? Leider gibt es Gesetze, die den Verbrechensmarkt erst möglich machen. Gäbe es keine Drogengesetze, würde Heroin so wenig kosten, dass sich nicht mal der Flug für Schmuggler lohnte. Verbote sind es, die den Drogenmarkt erst zum Geschäft machen! Jede Repression treibt den Preis in die Höhe. Ein Dealer, den ich in der U-Haft besuchte, hat mir sein Leid geklagt: «Wenn Drogen legal werden, wovon soll ich dann leben?» Er hat Recht: Drogendealer haben ein grosses Interesse an der Aufrechterhaltung der Repression. Sie und ein paar andere.
Wen meinen Sie?
Auch Ärzte, Therapiestationen und die Justiz profitieren vom Betäubungsmittelgesetz. Man stelle sich vor, Drogen würden legalisiert – wir müssten sofort einen Sozialplan für Richter und Anwälte aufstellen.
Sind Sie für die Freigabe aller Drogen?
Das können wir gar nicht, das gäbe ein Desaster. Es kommt ja auch niemand auf die Idee, alle Medikamente in den freien Verkauf zu geben. Die Liberalisierung weicher Drogen müsste ein europäisches Projekt sein. Leider ist die Tendenz gegenläufig.
Angenommen, Heroin wäre in der Apotheke auf Rezept erhältlich. Was dann?
Der Unterwelt würde der Markt entzogen. Der Schwarzmarkt fiele zusammen. Ganz würde er zwar nicht verschwinden, aber fast. Und die Kriminalität würde massiv zurückgehen.
Was macht Sie da so sicher?
Nehmen wir das Beispiel eines verschreibungspflichtigen Beruhigungsmittels: Valium bekommen Sie in der Apotheke, und trotzdem gibt es einen kleinen Schwarzmarkt. Ich habe aber noch nie gehört, dass sich Banden gegenseitig wegen eines Päckchens Valium umbringen.
Prohibition bringt nichts, das weiss man seit den Erfahrungen in den USA.Warum lernt man nicht daraus?
Wir Menschen sind Meister im Nichtlernen. Und wir geben nicht gern Fehler zu. Wahrscheinlich ist das unsere Natur. Während der Prohibition von 1919 bis 1933 wurden Konsum, Vertrieb und Import von Alkohol verboten. Die Folgen waren verheerend: Die Strafbarkeit schuf ein Risiko, das Produzenten und Händler auf den Preis abwälzten. Überall entstanden illegale Verkaufsstätten, die Alkoholprofis machten das grosse Geld. Und: Zum ersten Mal in der Geschichte der USA entstanden grossflächig kriminelle Organisationen.
Weniger Moral, mehr Markt – ist das die Lösung der Probleme?
Ich habe kein Patentrezept. Alles, was ich sagen kann, ist: Bei der Schaffung und Anwendung von Gesetzen sollte man sich überlegen, wie der Markt darauf reagiert. Mitunter treibt das Verbot den Preis in die Höhe und macht Kriminalität erst recht reizvoll. In der Sprache der Ökonomen: Der Staat schafft mit Verboten einen ökonomischen Anreiz für neue Marktteilnehmer im Drogenhandel und zusätzlich für Beschaffungsdelikte beim Kunden. Das Ziel wäre aber, einen Negativanreiz für den Betäubungsmittelhandel zu schaffen.
Gesetze gegen die Prostitution werden gern mit dem Schutz der Frau und ihrer Würde begründet.
Auch hier gilt: Moralische Überlegungen bei der Schaffung von Verboten verdrängen den Marktcharakter. Prostitution ist ein Markt. Ihn mit Verboten aus der Welt schaffen zu wollen, zeugt von geradezu abstruser Verleugnung der Realität.
Wie meinen Sie das genau?
Jede Prostituierte braucht einen Arbeitsplatz. Wer ihr dabei hilft, riskiert, sich strafbar zu machen. Und ein Risiko ist nichts anderes als ein Kostenfaktor. Die Frau, die sich prostituieren will, findet nur dann eine Wohnung, wenn deren Eigentümer keine Bedenken haben, die Kosten aus dem Risiko der strafrechtlichen Verfolgung abzuwälzen. Zum Beispiel via Miete oder Vermittlungsgebühr. Jedes Verbot führt auch zu höheren Margen für Betreiber von einschlägigen Etablissements und Callgirldiensten.
1992 wurde das Sexualstrafrecht revidiert. Eine sinnvolle Liberalisierung?
Absolut. Leider gibt es heute aber gegenläufige Tendenzen. Ein weiterer Punkt: Ist Prostitution verboten, entfällt auch der staatliche Schutz oder der Schutz durch legale Sicherheitsdienste.
Sie schreiben in Ihrem Buch, man sollte bei der Verbrechensbekämpfung nicht von weltfremden Wunschvorstellungen ausgehen. Ist es weltfremd, den Terrorismus militärisch zu bekämpfen?
Nicht unbedingt. Der Staat darf einfach nicht alle Freiheiten über Bord werfen, die seine Bürer in jahrhundertelangen Kämpfen errungen haben. Terroristen wollen ja, dass der liberale Staat abgeschafft wird.
Funktioniert auch der Terrorismus nach ökonomischen Gesetzmässigkeiten?
Bis zu einem gewissen Grad. Terroristen wollen polarisieren, die Bevölkerung gegen die Regierung aufbringen. Wie machten sie das? Polarisierung setzt eine exakte Dosierung der Ressourcen voraus.
Schlagen Terroristen zu hart zu, erreichen sie das Gegenteil.
Genau. Sie bringen die Bevölkerung gegen sich auf. Terroristen suchen sich also weiche Ziele, die wenige Opfer und viele Verunsicherte versprechen. Jeder muss sich dann sagen: Das hätte auch mich treffen können. Ein «ideales» Ziel für Terroristen ist deshalb der Vorortsverkehr. Angriffe auf Megaanlässe halte ich indes für eher unwahrscheinlich. Der Druck, den Terroristen mit einer solchen Katastrophe auslösen würden, ginge in die falsche Richtung. Aber natürlich kann ich mich täuschen.
Interview Reto Knobel, Bilder Stefan Jermann